Mary Montagu
Impfpionierin – Engel der Pockenkranken
Erfindung des Aufpfrofens
Die Ursprünge der türkischen Pockenimpfung sind nicht zu rekonstruieren. Die Legende erzählt von einer Griechin, die diese Prozedur im 17. Jahrhundert im Alleingang erfand und dann in die Türkei brachte. Es gibt keinen wissenschaftlichen Text, keine Erfolgsstatistik, keinen schriftlichen Disput zu dieser Methode der Lebendimpfung, die einem heute einen Schauer über den Rücken jagen mag; von Anfang an, so scheint es, lag sie ausschließlich in der Hand von Frauen. Lady Mary hielt Wort. Im März 1718 ließ sie ihren dreijährigen Sohn nach der Sitte inokulieren*. Er erkrankte und genas vorschriftsgemäß. Mary resümiert in ihren Aufzeichnungen: „Ich werde mir alle Mühe geben, diese nützliche Erfindung in England in Mode zu bringen, und ich würde gerne einigen Ärzten darüber brieflich berichten – wüsste ich nur welche, die anständig genug sind, eine solch lukrative Einnahmequelle anzutasten – sie verdienen zu gut an den Pocken, als dass sie nicht alles dafür täten, einer Verwegenen, die diese Krankheit abschaffen würde, das Maul zu stopfen. Wenn ich wieder in England bin, werde ich wohl in den Krieg ziehen müssen.“
*Krankheitserreger übertragen
Jahrelang beschwor Mary Montagu die medizinischen Fakultäten, den Hof, die Royal Society – ohne Erfolg.
Schließlich fand sie jedoch eine mächtige Verbündete, Caroline von Anspach, die Prinzessin von Wales. Ihr gelang es, den König zu einem Experiment zu überreden: Sechs Häftlinge des Gefängnisses von Newgate wurden nach türkischer Sitte geimpft, und als sie genesen waren, legte man sie zu Pockenkranken ins Bett. Heute würde man von einer Provokationsstudie sprechen. Ethikkommissionen waren noch nicht erfunden. Nicht ein einziger Häftling erkrankte, doch noch immer war man nicht überzeugt. Die Ärzte, die Zeitungen, die Kirche klagten und schimpften. Dann ließ die Prinzessin von Wales ungerührt ihre zwei Töchter inokulieren – und quasi über Nacht wurde das „türkische Pfropfen“ in aristokratischen Kreisen der letzte Schrei. Plötzlich war Mary Montagu ein Star. Sie konnte sich vor Besuchen, Einladungen, öffentlichen Auftritten kaum retten. „Hätte ich geahnt, zu welch großer Belästigung diese Angelegenheit gedeihen würde, hätte ich es mir vielleicht zweimal überlegt!“, so Mary.
Über ein halbes Jahrhundert, bevor Edward Jenner auf den grandiosen Einfall mit der Kuhpockenlymphe kam, impfte dank Lady Mary bereits halb Europa munter drauflos.
Mary erfuhr von Dingen, die ihre Gouvernante ihr vorenthalten hatte: Sie brachte sich selbst Latein und Französisch bei, las über Philologie und Philosophie, hatte bereits im Alter von 15 Jahren zwei Gedichtbände und einen Roman verfasst. »Ich werde auf ungewöhnliche Weise Geschichte schreiben«, notierte sie in ihrem Tagebuch. Und behielt recht.
Die junge Frau war schlau, attraktiv, eigenwillig. Den vom Vater ausgewählten Ehemann verschmähte sie und heiratete stattdessen einen aufstrebenden Politiker. Während sie am Leben der Londoner Gesellschaft teilnahm, veröffentlichte sie weiter Gedichte, manche so bissig satirisch, dass sie anonym erschienen. Lady Mary schrieb Texte über die lockere Moral des britischen Adels und äußerte sich kraftvoll und provokativ über die Stellung und möglichen Rechte der Frauen – 150 Jahre bevor das Wort Feminismus erfunden wurde.
Bereits im 16. Jahrhundert hatten die Pocken unvorstellbares Leid in Europa hinterlassen. Zeitweise starben daran jährlich bis zu 400.000 Menschen. Die Sterblichkeit bei Erkrankten war immens, 30 Prozent oder mehr. Das »gefleckte Monster« war die tödlichste Seuche der Welt und führte zu mehr Opfern als die schwarze Pest. 300 bis 500 Millionen waren es allein im 20. Jahrhundert, bis die Krankheit 1980 dank Impfungen für ausgerottet erklärt wurde.
Diese Direktübertragung lebender Pockenviren war ein sehr populäres Volksmittel, das meist Frauen aus Griechenland oder Armenien anboten. Sie gingen zu den Kranken und riskierten, sich zu infizieren, falls sie nicht selbst schon von den Pocken genesen waren. Den Kranken entnahmen sie Eiter aus den Pusteln und verabreichten ihn Gesunden. Nach etwa zehn Tagen begannen die Behandelten, meist milde Symptome zu entwickeln, blieben lebenslang immun und trugen kaum Narben davon. Das Verfahren wurde längst auch in China und Afrika genutzt, war aber in der westlichen Welt unbekannt geblieben.
Ihre Arbeit hatte die Tür geöffnet für weitere Verbesserungen im Kampf gegen die Pocken. 1767 wurde auch die Habsburger-Kaiserin Maria-Theresia von Österreich zur Impfpionierin und ließ vier ihrer eigenen Kinder impfen, nachdem sie bereits vier an die Seuche verloren hatte. Anstelle der Variolation entwickelte der englische Landarzt Edward Jenner 1796 die Vakzination, eine viel sicherere Impfung, aufbauend auf den Erkenntnissen von Lady Mary.
//DATEN
1689-1762
//POSITION
Schriftstellerin, Lyrikerin
//ERRUNGENSCHAFT
Sie brachte die Variolation, einer Impfung mit intakten Pockenviren, nach Europa
//WEITERFÜHRENDE INFORMATIONEN
Jo Willet¸ The Pioneering Life of Mary Wortley Montagu