Naturwissenschaften einen Raum geben

© DKJS / Peter Geiger

Mikroplastik von der Schlittschuhbahn oder Nitratgehalt im Fluss. An der Elisabethschule in Marburg gehen beim sechswöchigen Projekt „Pull-Out“ sechs leistungsstarke Schüler:innen auf Spurensuche. Gemeinsam, kreativ und kritisch widmen sie sich selbst gewählten MINT-Forschungsthemen und entwickeln dabei ein neues Selbstbewusstsein.

Forschungsideen aus dem Alltag
Im 10 m² kleinen Chemieraum herrscht emsiges Treiben. Es ist warm, der Geruch von Desinfektionsmittel liegt in der Luft. Sechs Mädchen sitzen gedrängt an ihren Arbeitstischen. Emilia rückt ihre Schutzbrille zurecht, Joey greift zu kleinen Gefäßen, den Küvetten. Sie enthalten unterschiedlich rosafarbene Flüssigkeiten und stehen in zwei Reihen an ihrem Tisch. “Die Farbe kommt durch das Nile Red, das ist ein fluoreszierender Farbstoff. Damit können wir sehen, ob die Teile in der Flüssigkeit von unseren Proben Mikroplastik sind oder doch natürliche Partikel“, erklärt Joey und holt mit einer langen Pinzette ein kleines Teilchen aus dem Reagenzglas. Joey legt es behutsam auf den Objektträger eines Mikroskops. Es leuchtet in grellem Pink. Die beiden 15-jährigen Mädchen forschen zum Thema Mikroplastik. Ihre Proben haben sie von der städtischen Eisbahn entnommen. Denn den “Eispalast”, so heißt die Schlittschuhbahn in Marburg, gibt es in diesem Jahr in einer energiesparenden Variante. “Als wir davon gehört haben, dass die Bahn diesen Winter aus synthetisch hergestelltem Eis besteht, haben wir sofort an Mikroplastik gedacht. Durch die Kufen und den Abrieb ist doch eigentlich klar, dass sich etwas von der Masse löst. Das wollten wir unbedingt untersuchen”, beschreibt Emilia den Weg zu ihrem Forschungsthema und schwenkt den Erlenmeyerkolben, in dem viele kleine schwebende Partikel zu sehen sind.

Zahlreiche Wettbewerbserfolge sprechen für „Pull-Out“
Nach den Sommerferien werden Einladungen an die jahrgangsbesten Schüler:innen zwischen den Klassen 8 bis 10 der Elisabethschule verschickt und stellen das Projekt vor. Denn „Pull-Out“ richtet sich an leistungsstarke Schüler:innen, die trotz differenzierender Unterrichtsformen im normalen, von häufigen Wiederholungsphasen geprägten Schulalltag oft unterfordert sind.
Für das sechswöchige Projekt werden die Kinder vom Unterricht freigestellt, also vom Unterricht “herausgezogen” (englisch: pull out). Die Halbjahresnoten stehen deshalb schon früher fest als bei den anderen Schüler:innen. Bis zu den Herbstferien finden die ersten Treffen statt, bei denen sich langsam herauskristallisiert, wer mit wem zu welchem Thema arbeitet. Astrid Höhle freut sich über die Freiheit, die sie den Kindern bei der Themenfindung ermöglicht. “Uns ist es beim Projektstart ganz wichtig, offen für die Ideen der Kinder zu sein”, betont die Mathe- und Chemielehrerin, die mit drei Kolleg:innen das Projekt an der Schule betreut.
Das pädagogische Konzept zur Individualisierung im experimentellen Bereich hat in den letzten neun Jahren zu zahlreichen Wettbewerbserfolgen bis hin zu Teilnahmen an Bundeswettbewerben bei „Jugend forscht“ und „Jugend experimentiert“ geführt.
Die DKJS fördert das Projekt im Rahmen des Programms Wir stärken Mädchen.

Kompetenzen für die Zukunft stärken
Die Jungforscher:innnen wollen vor allem mit ihrem Projekt etwas Sinnvolles machen. “Umweltschutz ist mir einfach wichtig”, so Johanna. “Bei „Pull-Out“ können wir uns kreativ mit Themen beschäftigen, die im normalen Unterricht keinen Platz haben”, ergänzt Emilia aus der Zweiergruppe.
Neben dem Drang zu forschen geht es bei „Pull-Out“ auch um sechs Zukunftskompetenzen, die die DKJS erarbeitet hat: Coolness, Communication, Critical Thinking, Collaboration, Charisma und Creativity. Diese bekommen die Schüler:innen beim Projekt vermittelt und wappnen sie für die Zukunft.
Für Emilias Forschungskollegin Joey spielen Teamwork, Neugierde und das Mitdenken eine große Rolle, “ich finde es immer toll, neue Leute kennenzulernen. Die Zusammenarbeit macht total Spaß, wir ergänzen uns beide richtig gut und kommen so auf neue Ideen”. Collaboration, Critical Thinking und Creativity haben sich die beiden also schon angeeignet.
Fenja, Mia und Johanna kannten sich vorher nicht.  In der Projektzeit sind sie zusammengewachsen und treten jetzt selbstbewusster auf. “Ich kenne unsere drei jüngsten Teilnehmer:innen aus dem Unterricht. Dort sind sie eher ruhig. Es ist erstaunlich zu sehen, wie sie bei „Pull-Out“ aufblühen, selbstbewusst über ihre Ideen sprechen und sich austauschen”, erzählt Hannah Rühling, eine der drei weiteren pädagogischen Begleitungen. Die Dreiergruppe lebt bereits Communication, Collaboration und Charisma aus.
Die genannten Fähigkeiten sind vor allem wichtig, um die Folgen der Corona-Pandemie zu bewältigen und Alltagsstrukturen zurückzugewinnen.

Weg von den Defiziten, hin zu den Stärken
Auch Schulleiter Gunnar Merle ist vom Konzept überzeugt. Die Kinder erleben durch „Pull-Out“ Stärken, die sie vorher gar nicht wahrgenommen haben. “Schule ist immer defizitorientiert”, fasst er zusammen. “Als Lehrkräfte gucken wir immer, was von den hundert Prozent fehlt, auch wenn das nichts über die eigenen Fähigkeiten der Kinder aussagt. Dank „Pull-Out“ machen die Mädchen neue Erfahrungen ihrer Kompetenzen, schon bei der Themenfindung, über das Teamwork bis zur Präsentation der Ergebnisse. Die Mädchen können sich anders wahrnehmen – und werden anders wahrgenommen, etwa wenn sie auf Wettbewerben ihre Arbeiten vor einem fremden Gremium vorstellen”, so Merle.

Naturwissenschaften einen Raum geben
Darum arbeitet die Elisabethschule gemeinsam mit anderen Marburger Schulen an einem Leuchtturmprojekt für die Region, einem Schüler:innenforschungszentrum Mittelhessen für die Oberstufen. “Für Sport gibt es Vereine, für Instrumente Musikschulen. Aber es gibt keinen Ort für Naturwissenschaften. Schule ist zu eng dafür. Das wollen wir ändern”, so Merle. Auch das Kultusministerium hat bereits positive Signale gesendet. “Wir sehen bei “Pull-Out”, wie viele Kinder sich für die MINT-Fächer begeistern und wollen ihnen unbedingt einen Raum geben”, ergänzt Hannah Rühling.

Text: Clara Josottis
Fotos: © DKJS / Peter Geiger
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