© Urs Dudzus

Gendersensible Berufsorientierung in der Praxis

 

Seit 2017 ist gendersensible Berufsorientierung Thema am Werner-von-Siemens-Gymnasium, denn in diesem Jahr hat Urs Dudzus, Koordinator für Berufs- und Studienorientierung, die Initiative ↗ klischeefrei auf einer Fachtagung kennengelernt. „Ich wusste sofort, dass wir uns als Schule diesem Thema annehmen müssen. Im selben Jahr ergaben von und mit Schüler:innen durchgeführte Interviews, dass die Berufswünsche doch noch sehr traditionell verteilt waren: die Mädchen interessierten sich überwiegend für soziale und geisteswissenschaftliche Berufe, während die Jungen sich eher im technischen Bereich sahen.“ 2018 wurde das Gymnasium dann als erste Schule Mitglied im Netzwerk der Initiative klischeefrei und gendersensible Berufsorientierung fester Baustein am Gymnasium. Mittlerweile sind weitere Schulen dazugekommen, denn die Relevanz des Themas spricht sich rum.

Materialien gendersensibel gestalten und auf Freiwilligkeit setzen

Gendersensible Maßnahmen im Rahmen der Berufsorientierung fangen bei den Details an. So ist es wichtig, Materialen bei der Auswahl der Bilder und bei der Ansprache der Schüler:innen gendersensibel zu gestalten, um alle zu berücksichtigen und damit anzusprechen. Bei der letzten ↗ klischeefrei-Fachtagung habe der BSO-Koordinator gelernt, dass es auch auf die Raumgestaltung ankäme, damit sich Mädchen abgeholt und wohl fühlen. Das schaffe man mit einer neutralen eher als mit einer sehr technisch aussehenden Ausstattung. „Das schaue ich mir bei der nächsten Gelegenheit mal an unserem Informatikraum an“, fügt Dudzus hinzu.
Ob Betriebserkundungen in der 8. Klasse, den Career Day mit Eltern, den jährlichen Girls‘ und Boys‘ Day oder andere Projekte in der Berufsorientierung: man sollte den Schüler:innen stets eine große Bandbreite an Einblicken in Berufe und vor allem einen Perspektivwechsel ermöglichen. Seine Schule zeigt mit aller Offenheit viele Möglichkeiten auf, von denen sich die Schüler:innen nehmen können, was sie interessiert. Grundsätzlich gelte: Schüler:innen sollen sich freiwillig für ein Angebot entscheiden. „Wenn eine Schülerin partout nicht in einen MINT-Beruf reinschnuppern möchte, dann werde ich sie nicht dazu zwingen“, bekräftigt Urs Dudzus den Ansatz.
Der BSO-Koordinator sieht auch die Elternarbeit als nicht zu unterschätzenden Faktor und versucht zum Beispiel bei Elterngesprächen auf Offenheit und Freiheit bei der Berufswahl der Kinder zu appellieren.

Veränderungen an der Schule

Ob die Maßnahmen schon Früchte tragen, könne nach der kurzen Zeit noch nicht mit Sicherheit gesagt werden. Allerdings stoßen die Angebote, insbesondere auch die exklusiv für Mädchen, auf sehr großes Interesse, darunter auch das Projekt „MINT-Vorbilder & Influencerinnen“, welches im Rahmen von Wir stärken Mädchen umgesetzt wird. „Wir wollen aber im nächsten Jahr die Befragung der Schülerschaft wiederholen, um zu schauen, ob sich die Berufswünsche unter den Geschlechtern gewandelt haben. Unsere Projekte und Maßnahmen evaluieren wir auch regelmäßig. Wir wollen ja mit dem Zeitgeist gehen.“
Auch gebe es im Kollegium immer mehr Lehrkräfte, die sich dem Thema annehmen und u.a. auf gendersensible Ansprache der Schüler:innen achten.
Leider könne auch Dudzus beobachten, dass trotz aller Bemühungen, Mädchen immer noch sehr selten eine Ausbildung oder ein Studium im MINT-Bereich wählen. „Warum das so ist, ist für mich auch die zentrale Frage, auf die ich allerdings noch keine gute Antwort gefunden habe.“

Rollenvorbilder und Stärkung des Selbstbewusstseins als wichtige Erfolgsfaktoren

Eine mögliche Herangehensweise an diese Frage, sieht Urs Dudzus im Einsatz von Vorbildern als Inspiration und Zugang zu präferierten Berufen und Branchen. Schon der Austausch mit Frauen, die bereits einen Berufsweg eingeschlagen haben und von eigenen Erfahrungen berichten können, empfinden die Mädchen als sehr wertvoll und es kreiere andere Bilder in den Köpfen. Man verbinde dann nicht automatisch Informatik oder Bauingenieurswesen mit einem Mann, weil man bereits in diesem Feld tätige Frauen persönlich kennengelernt habe. „Ich habe auch angefangen, meine jetzigen Schüler:innen mit Ehemaligen in Kontakt zu bringen. Somit haben sie die Gelegenheit, mit Personen ins Gespräch zu kommen, die aus dem Berufs- oder Studienalltag berichten und Tipps geben können“, so der BSO-Koordinator.
Außerdem beobachte der Lehrer bei Mädchen immer noch ein geringer ausgeprägtes Selbstbewusstsein als bei Jungen. Sie erzielen bessere Ergebnisse, zum Beispiel im Abitur, trauen sich aber oftmals nicht, zu zeigen was sie können. Gute gendersensible Berufsorientierung müsse also auch dort ansetzen, das Selbstbewusstsein bei Mädchen zu stärken, damit sie die Gewissheit bekämen: „Ich bin gut und ich kann das!“. Auch da sei der direkte Kontakt zu Vorbildern unerlässlich.

Tipps für Kolleg:innen zur gendersensiblen Berufsorientierung

„Alleine schafft man es nicht“, meint Dudzus. Zuallererst müsse man sich Partner:innen und Unterstützer:innen an die Seite holen. Dazu gehöre in erster Linie die Schulleitung, aber auch Externe, die neue und wichtige Impulse in die Schule einbringen. Man müsse sich aber im Klaren sein, dass feste Kooperationen langfristig geschlossen werden sollten und dass die Pflege der Netzwerke auch zeitintensiv sein kann. Dadurch bleibe die eigene Arbeit aber lebendig und attraktiv, auch für die Schüler:innen. Als Lehrkraft müsse man aber auch selbst ein Vorbild sein und das eigene Verhalten und die eigene Rolle hinterfragen und reflektieren. Und „eine Prise Enthusiasmus“ Mädchen und Junge an atypische Berufe heranzuführen, dürfe auch nicht fehlen. „Am Ende ist mein Ziel aber, dass wir einen ganz normalen Umgang damit finden. Dass es nichts Außergewöhnliches ist, wenn ein Mädchen einen MINT-Beruf ergreift oder ein Junge im sozialen Bereich tätig werden möchte.“

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