Gendersensible Berufsorientierung für Mädchen und junge Frauen

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Was bedeutet eigentlich gendersensible Berufsorientierung?
Diese Frage hören wir häufig, wenn wir das Programm Wir stärken Mädchen – future ready vorstellen. Gendersensibilität bedeutet eine bewusste Wahrnehmung und Berücksichtigung unterschiedlicher Lebensbedingungen von Geschlechtern. Das Ziel ist, geschlechtergerecht und gleichstellend zu handeln.

Gendersensible Berufsorientierung für Lehrkräfte
Bei Wir stärken Mädchen werden verschiedene Workshops für Lehrkräfte und pädagogische Begleitkräfte angeboten, so auch der Workshop „Gendersensible Berufsorientierung“. Ziel ist es, Begrifflichkeiten aus dem Themenfeld Geschlecht und Geschlechtskonstruktion kennenzulernen, die spezifischen Sozialisationsbedingungen und -bedürfnisse von Mädchen zu verstehen und konkrete Handlungsoptionen zu diskutieren.

Geschlechtskonstruktion in Kindheit und Jugend als Basis gendersensibler Berufsorientierung
Es ist längst wissenschaftlich belegt: Geschlechterspezifische Leistungsunterschiede – z. B. in Mathematik und Lesen – sind nicht auf verschiedene genetische Begabungen zurückzuführen, sondern auf unterschiedliche kulturelle Einstellungen und Erwartungshaltungen gegenüber den Geschlechtern. Schon in der frühen Kindheit wird Jungen mittels Spielzeugautos und Baukästen vermittelt, dass sie Wissensdurst, Technikverständnis und Stärke besitzen (sollen). Wohingegen Mädchen mit Puppen und Stofftieren die Rolle der empathischen und hilfsbereiten Mutter, Ehe- und Hausfrau erlernen, die ihre eigenen Bedürfnisse für das Wohl anderer zurücksteckt.

Zudem haben Unterrichtsuntersuchungen* gezeigt, dass Kindern im Grundschulalter nicht das gleiche Maß an Aufmerksamkeit geschenkt wird: Jungen erhalten mehr Beachtung und Bestätigung durch Lehrkräfte, holen sich ihre Anerkennung aber eher in Vergleichs- und Rivalitätssituationen innerhalb der Peergroup. Im Gegensatz dazu bekommen Mädchen weniger Zuspruch durch Autoritätspersonen, brauchen diesen aber explizit, weil sie schneller und stärker an ihren Kompetenzen zweifeln. Die Folgen sind: Rückzug und Selbstvertrauensverlust.

Im Rahmen der klassischen Berufsorientierungsangebote im Sekundarschulbereich werden Geschlechterklischees häufig noch verstärkt. Denn Mädchen erhalten hier meist nur Einblick in typischen „Frauenberufe“, „Männerberufe“ erscheinen ihnen aufgrund von Vollzeit und Mobilität als unerreichbar, da auch keine Optionen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf besprochen werden.

 

Pool of Tools für eine gendersensible Berufsorientierung

Selbstreflexion
Selbstbeobachtung auf der Ebene der Sprache – z. B. die unterschiedliche Intonation gegenüber Mädchen und Jungen oder klischeeverhärtende Wortwahl – ist ein Schritt aus der unbewussten Diskriminierung bzw. Ungleichbehandlung von Mädchen („unconcious bias“) in die bewusste Veränderung. Ein weiter Schritt erfolgt auf der Ebene des/r eigenen Lehrverhaltens und -methoden: Da sichSchülerinnen in direkten Vergleichssituationen schnell unter Druck gesetzt fühlen und zurückhalten, beispielsweise beim Melden, kann ihnen ein bewusst häufigeres Ansprechen und „Abfragen“ sowie mehr Kleingruppensettings mehr mündliche Leistungserfolge ermöglichen. Hilfreich ist ebenfalls ein Lehrbuch-Check hinsichtlich Geschlechtsstereotypen: Wie und in welchem Kontext werden Mädchen abgebildet bzw. wie und wo explizit nicht. Die Anschaffung oder selbstständige Erstellung alternativer Materialien, gemeinsam mit Schülerinnen im Rahmen einer Projektwoche, kann Mädchen ermutigen, Geschlechterstereotype selbstständig zu hinterfragen. Selbstreflexion ist zudem gekoppelt an eine Veränderung und Professionalisierung der pädagogischen Haltung.

Wissen
Räume für Selbstreflexion und auch Fremdreflexion können schulinterne oder externe Fort- und Weiterbildungen zu Diversität, Gender- oder Sexualpädagogik etc. sein. Dort kann u. a. Wissen zu Geschlecht und Geschlechtskonstruktion sowie zu Sozialisationsbedingungen und -herauforderungen bzw. dem unsicheren Selbstkonzept von Mädchen erlangt werden.

Netzwerk
Um stets reflektiert und auf dem aktuellen Wissenstand zu bleiben, braucht es ein professionelles Netzwerk im Rücken. Dieses kann aus Fort- und Weiterbildungspartner:innen, schulinternen „Verbündeten“, z. B. anderen diversitäts- oder gender-geschulten Lehrer:innen und Sozialarbeiter:innen, sowie aus Role Models und sonstigen Akteur:inen aus dem Unterstützungssystem Schule bestehen.

Role Models
Weibliche Rollenmodelle aus männlich dominierten Berufen wie etwa im Handwerks- oder MINT-Sektor bereichern die klischeefreie Berufsorientierung. Sie können Mädchen und jungen Frauen vermitteln, dass eigene Interessensgebiete und Kompetenzen wichtiger sind als gesellschaftliche geschlechtsbezogene Rollenerwartungen, indem sie über den eigenen Berufsalltag und die Wege dorthin sprechen.

Einbezug der Eltern
Wenn eine junge Frau sich für ein Studium oder eine Ausbildung  im MINT-Bereich interessiert und  sogar schon AGs oder Workshops besucht, braucht sie Eltern und Freund:innen, die ihre Bemühungen begleiten und unterstützen. Eltern können durch ihren Werdegang bzw. Beruf auch selbst Role Models für ihre Töchter sein. Zudem können zusätzliche Schulangebote für Eltern wie Broschüren oder digitale Themen-Abende aktive Werkzeuge zur Schaffung eines empowernden Umfelds sein.

Intersektionalität
Menschen können aufgrund mehrerer Eigenschaften und Identitäten benachteiligt werden. So gibt es Forschungshinweise, dass Mädchen aus wirtschaftlich benachteiligten Familien eine Karriere im MINT-Sektor oder in der Wissenschaft gar nicht in Betracht ziehen. Um allen Mädchen eine interessen- und kompetenzbasierte Berufsorientierung zu ermöglichen, ist es für Schulen hilfreich bei zukünftigen Entscheidungen folgende Punkte mitzudenken: Wie berücksichtigen wir mit unseren Angeboten möglichst viele der diversen Identitäten, Perspektiven und Lebensrealitäten unserer Schülerinnen? Wie divers sind Kollegium und externe Role Models? Werden bei didaktischen Konzepten/Strategien die verschiedenen Hintergründe, Eigenschaften und Lernstile der Adressatinnen wirklich mitgedacht?

Safer Space Schule
Da gendersensibles Arbeiten im Mikrokosmos bestimmter Lehrkräfte kaum gehalten werden kann, sollte die gesamte Schule sich bemühen, Safer Space zu sein bzw. Safer Spaces zu bieten. Das beinhaltet das Bewusstsein, dass es hier mehr Autoritätspersonen gibt als „nur“ Lehrkräfte –  z. B. Köch:innen, Hausmeister:innen, Putzkräfte und Sekretär:innen – welche entsprechend geschult auch potenzielle Vorbildpersonen für Schülerinnen sein können. Zudem sind für diskriminierungssensibles Verhalten geschulte Expert:innen auf möglichst vielen Personenebenen der Schule hilfreich: nicht nur unter den Lehrer:innen und Sozialarbeiter:innen, sondern auch unter den Schüler:innen (Mediator:innen, Streitschlichter:innen etc.) oder idealerweise auf der Leitungsebene selbst. Spezielle Räume und/oder Ansprechpartner:innen für Mädchen können ebenfalls Safer Spaces darstellen sowie monoedukative Angebote, v. a. im MINT-Bereich.

*Quellen:
Kessels, U. Welche Rolle spielen Geschlechterstereotype in der Schule. 2022: Link
Handreichung AWO-Bundesverband (Hrsg.). Gendersensible Berufsorientierung im Übergang Schule-Beruf. Berlin 2015: Link 

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