Dorothea schafft Platz
Dorothea Goosmann will, dass die ganze Nachbarschaft kommt. Im Frühsommer 2023 soll die neue Freiluftwerkstatt der Jugendschule Strausberg in Brandenburg fertig sein. Es wird einen Tag der offenen Tür geben und Dorothea wird die letzte Prüfung für die Fachoberschulreife gerade hinter sich haben. Doch eigentlich legt sie mit der Freiluftwerkstatt schon jetzt die wichtigste Prüfung ab. Vom Förderantrag über die Materialbeschaffung bis zur Endabrechnung: Das gesamte Projekt liegt in der Hand dieser 16-jährigen Schülerin. Dorothea sagt: „Manchmal ist es ganz schön viel.“ Dann fragt sie sich, was passieren kann. „Wir haben hier schon so viel hinbekommen. Es gibt keinen Grund, warum das mit der Werkstatt nicht auch klappen sollte.“
Projektstatus: läuft
Beim Ortstermin Anfang Dezember hat die Schülerin der zehnten Klasse ihr Projekt jedenfalls fest im Griff. Sie steht vor dem Unterstand, der die neue Freiluftwerkstatt werden soll. Gleich dahinter beginnt der Wald. Der Wind ist eisig an diesem Tag, der auch gegen Mittag kaum hell werden will. Dorothea ist seit Stunden hier draußen. Ihre Wangen leuchten. Sie sagt: „Wir liegen gut im Plan.“
Zwei der Wände sind bereits mit dicken Holzbrettern gegen den Wind und das trockene Laub aus dem Wald geschützt. Die dritte Wand ist heute dran. Bretter müssen zugesägt und angeschraubt werden. Die schweren Tische für das Werkzeug sind geliefert, aber noch nicht aufgebaut. Es gibt erste Ideen für den Türbereich. Das Projekt ist damit beim anspruchsvollsten Teil angekommen. Die Tür soll die Werkstatt abschließen, sich aber auch entfernen lassen, wenn große Bauprojekte Platz im Garten brauchen. Schiebetür oder eine, die sich nach oben aufklappen lässt? Teilweise oder über die ganze Breite? Welche Lösungen haben andere gefunden? „Das werden wir heute recherchieren“, sagt Dorothea.
Am Anfang gibt es nichts, heute viel
Aus nichts viel zu machen; an der Jugendschule Strausberg ist es das wichtigste Fach. Seit 2019 ist das ehemalige Nonnenkloster außerschulischer Lernort des Montessori Campus Berlin Köpenick. Am Anfang gibt es hier nichts – also nichts, was an Schule erinnert. Zwei verfallene Häuser wuchern gerade zu. Es gibt den Wald, einen Teich, eine Obstwiese, Schafe. Schulleiter Timo Nadolny sieht vor allem Platz zum Wachsen und Entwickeln. „Unser wichtigster Auftrag ist es, junge Menschen dabei zu begleiten, ihren Platz im Leben zu finden.“
Unter fachlicher Anleitung bauen die Schüler:innen zunächst zwei winterfeste Zelte, so genannte Jurten, für den theoretischen Unterricht. Dann folgen der Verkaufswagen und der NaWi-Pavillon. Der größte Neubau ist das Blaue Haus, das Hauptgebäude, das alle gemeinsam planen und errichten. Fördermittel beantragen, Winkel berechnen, Fenster einbauen: Ständig muss etwas erdacht, geschrieben, verstanden werden. Dafür setzt die Schulgemeinschaft all ihre Sinne und Fähigkeiten ein.
Auf dem Netzwerkwerktreffen ist Dorothea die einzige Schülerin
So kommt es auch, dass Dorothea im Herbst 2022 nach Berlin zum Netzwerktreffen der WSM-Projekte fährt – als einzige Schülerin, die voll für ein Projekt verantwortlich ist. Dorothea hat ihr Leben lang mit Holz gebastelt; aus Ästen Figuren geschnitzt und im Wald Baumhäuser gebaut. In der alten Werkstatt der Jugendschule fällt ihr buchstäblich die Decke auf den Kopf. Die beiden Gewölberäume sind winzig und niedrig. Wenn die Kappsäge läuft, rieselt Holzstaub dicht wie Schnee vor den Gesichtern. Ständig kommen sich die Schüler:innen in die Quere. Dorothea schlägt vor, die alte Sommerküche zur Freiluftwerkstatt umzubauen. Sie darf – unter der Bedingung, dass sie die Verantwortung für das Vorhaben übernimmt.
Anträge schreiben, Material bestellen, Geld abrechnen – alles liegt in ihrer Hand
Von da ab ist Dorothea Projektleiterin. Sie organisiert die Bewerbung bei Wir stärken Mädchen. Dabei lernt sie etwa, was Schreiben bedeutet; nämlich nicht das Vermeiden von Fehlern im Text, sondern schriftsprachlich so zu kommunizieren, dass sie ein bestimmtes Ziel erreichen kann. Als die erste Rate kommt, löst Dorothea Bestellungen aus, bucht Geld und legt Rechnungen ab. Sie hält ein Team zusammen, das praktisch jeden Tag wechselt. Wo nötig, hilft Timo. Außerdem gibt es Mark, einen Tischler aus der Umgebung. Vereinbart ist, dass sich Mark nur zu Ideen äußern darf, welche die Schüler:innen selber entwickelt haben.
Lernen heißt hier: Zukunftskompetenzen entwickeln
Dorothea sagt, dass sie viel lernt in diesem Projekt, fachlich und über sich selbst. Kreatives Denken, Kommunikation, Zusammenarbeit, Coolness: Vieles von dem, was sie aufzählt, gehört zu genau den Zukunftskompetenzen, die Wir stärken Mädchen fördern will. Dorothea will Abitur machen und danach etwas Handwerkliches oder etwas mit Umweltschutz. Wichtig ist ihr, dass sie auch weiterhin ihren Neigungen folgen und selbstbestimmt lernen kann. Jungs- oder Mädchensachen – damit hat sich Dorothea noch nie aufgehalten und an der Jugendschule Strausberg schätzt sie sehr, dass die anderen das genauso sehen.
Jungs- und Mädchenkram – oder doch nicht?
Aber selbst hier gibt es noch einiges zu lernen, auch für Menschen von außen. Hospitationsplätze an der Jugendschule sind begehrt. Besucher:innen beobachten dann Szenen wie diese: Kurz vor dem Mittagessen schneiden Rebecca und Konstantin in der neuen Freiluftwerkstatt Bretter zu. Sie brauchen Aussparungen für die Steckdosen. Konstantin misst. Konstantin zeichnet. Konstantin erklärt. Rebecca bohrt das Loch, an dem die Stichsäge ansetzen soll. Die Säge reicht sie weiter an Konstantin. Sie sagt: „Ich kann das nicht.“ Konstantin setzt den ersten Schnitt, den zweiten. Dann gibt er Rebecca die Säge zurück. „Hier, mach du.“ Rebecca sägt.
Das sieht typisch aus, ist es aber nicht. Vor drei Jahren war Rebecca eines der schüchternen Mädchen. Neulich hat sie ein Kochbuch mit Rezepten feministischer Frauen geschrieben und vor der ganzen Schule präsentiert. Sie sagt, dass sie lieber recherchiert und schreibt, als mit Werkzeug zu arbeiten. Aber sie traut es sich nun immer zu, etwas Neues wenigstens auszuprobieren. „Manchmal wäre ich gern noch ein bisschen cooler, aber mir geht es damit gut.“
Konstantin wiederum hat viel Erfahrung mit Holz und Werkzeug – und er ist ungeduldig, weil er will, dass es weiter geht. „Ich habe gelernt, dass ich mich manchmal bremsen muss. Ich habe ja auch keinen Bock, alles selber zu machen, nur weil jemand denkt, der kann das ja.“ Bei sich selbst bleiben, kritisch hinterfragen, darauf Zusammenarbeit bauen – so helfen die Zukunftskompetenzen auch dabei, starre Rollenbilder zu überwinden, ohne Talente und Interessen aufzugeben.
Die ganze Nachbarschaft soll die neue Werkstatt nutzen
Dorothea sagt, dass solche Rollen hier ständig wechseln. Auch deshalb finden sich die Arbeitsgruppen jeden Tag neu. Und deshalb soll die neue Freiluftwerkstatt ab dem Frühsommer auch für die Nachbarschaft geöffnet sein. Alle in der Umgebung sollen die Chance haben, Neues auszuprobieren, eine andere Rolle zu finden oder etwas zu tun, dessen Ergebnis nicht vorgegeben ist. Dorothea steht in der kalten Dezemberluft und grinst. „Das kann man hier wirklich gut lernen.“