Im Digitallabor der OSW können Mädchen virtuelle Welten gestalten

© DKJS / Anja Köhne

Ein versunkenes Schiff, Unterwasserfelsen, drei Meeresforscher:innen und ein Hai, der geruhsam seine Kreise zieht. Wir befinden uns in der virtuellen Unterwasserwelt von Kristina. Die hat sie via App CoSpaces selbstständig gestaltet und programmiert. Zugewandt lächelt mir die 13-Jährige ins Gesicht. Es macht ihr Spaß, sich im Digitallabor kreativ auszutoben und eine eigene Welt zu entwickeln. DigiLab ist ein Projekt der Offenen Schule Waldau in Kassel, angestoßen von der Mathe- und Physiklehrerin Zehra Akyol. Für das Projekt werden jeweils drei Schüler und Schülerinnen aus zwei Klassen für viermal zwei Stunden aus dem regulären Unterrichtsbetrieb herausgenommen. In kleinen Gruppen können sich die Mädchen und Jungen der Jahrgangsstufe 8 an VR-Brillen, 3D-Druckern und Softwareprogrammen wie CoSpaces oder Multibrush VR ausprobieren.

Selbstkonzept der Mädchen stärken
Melissa hat sich sofort gemeldet, um am DigiLab teilzunehmen. Sie möchte später Grafikerin werden, baut zuhause bevorzugt Welten mit Minecraft. Aktuell programmiert die 14-Jährige eine virtuelle Achterbahn. Manchmal ist sie genervt von den Jungs: „Einige Jungs meinen, Mädchen gehören in die Küche.“ Von solchen antiquierten Vorurteilen lässt sich die Schülerin aber nicht einschüchtern und hat auch keine Scheu, ihr Projekt in der Klasse zu präsentieren. Doch nicht alle Mädchen sind so selbstsicher wie Melissa.
„Den Mädchen fehlt es oft an Selbstbewusstsein und sind vom Digitallabor erstmal nicht so überzeugt“, weiß Akyol. „Wir zeigen ihnen, dass sie keine Angst haben müssen, mit digitaler Technik in Berührung zu kommen.“ Die einzelnen Projekte werden nicht bewertet. So können die Schülerinnen ihre individuellen Ideen ohne Notendruck umsetzen. Chancengleichheit ist für Akyol eine Herzensangelegenheit. Frau Akyol, die mit 9 Jahren nach Deutschland zuwanderte, kommt aus sozial schwachen Verhältnissen und weiß, was es bedeutet, sich durchzukämpfen. Heute möchte sie ein Vorbild sein. „Mädchen und Frauen müssen oftmals mehr tun, um anerkannt zu sein. Ich möchte, dass die jungen Frauen gesellschaftlich die gleichen Chancen haben. Mir ist es wichtig, die Mädchen in ihrem Selbstkonzept zu stärken.“
An diesem Mittwochmorgen herrscht eine ruhige Atmosphäre in dem kleinen Computerraum, alle arbeiten konzentriert an ihren Projekten. Akyol schaut ihnen ab und zu über die Schulter, gibt Hilfestellung, wenn die Jungen und Mädchen mal nicht vorankommen. Aber die Schülerinnen und Schüler unterstützen sich auch gegenseitig.

Zukunftskompetenzen fördern
Mit dem Projekt will die OSW den Mädchen Einblicke in digitale Berufe eröffnen und ihnen die Möglichkeit geben, Stereotypen zu hinterfragen und zu überwinden. Coolness, Communication, Critical Thinking, Collaboration, Charisma und Creativity beschreiben die sechs Zukunftskompetenzen, die die Mädchen im DigiLab trainieren. In den geschützten Kleingruppen erlangen und festigen die Schülerinnen jene Fähigkeiten, die für eine erfolgreiche Berufslaufbahn ausschlaggebend sind. Auf spielerische Weise lernen sie veraltete Denkmuster aufzubrechen, ihre Ressourcen sinnvoll einzuteilen, gemeinsam Lösungen zu erarbeiten, kreativ zu sein, sich auf Augenhöhe zu begegnen und wertschätzend zu kommunizieren. „Jede virtuelle Welt ist anders, es gibt kein Richtig oder Falsch, auch kleine Erfolge zählen“, erklärt Akyol. Das stärkt das Selbstvertrauen.
Beim Präsentieren üben die Schülerinnen, ihre Ideen selbstbewusst in einer Gruppe vorzutragen. Per Livestreaming kann die Klasse an der virtuellen Welt teilhaben. Das Sprechen vor Publikum fällt nicht jeder Lernenden leicht. „Im November hat das Auftaktevent von Wir stärken Mädchen in Marburg stattgefunden. Einige Schülerinnen haben in letzter Sekunde abgesagt, weil sie sich nicht auf die Bühne gewagt haben“, bedauert Akyol. Es gibt noch viel zu tun für die engagierte Lehrerin.

Mädchen für Technik begeistern
Warum sich Mädchen zurücknehmen und sich oft nicht trauen, hängt auch mit dem Selbstbild zusammen und den Erwartungen, die dahinter stecken. „Oft ist es so, dass sich Jungs eher für technische Sachen interessieren, während sich die Mädchen auf Grafik und Gestaltung konzentrieren“, sagt Pascal Dreher, stellvertretender Schulleiter. „Durch das DigiLab können wir die Neugier der Mädchen für technische Bereiche wecken. Neugier ist das, was kultur- und geschlechterübergreifend alle vereint.“ Die OSW gibt den Schülerinnen den Raum, Dinge einfach mal zu machen. „Nur so können wir Veränderungen herbeiführen“, ist sich Dreher sicher.
Matthias Braun, Lehrbeauftragter an der OSW für die Bereiche Multimediawerkstatt, digitale Themen und Physik, hat dazu seine Examensarbeit verfasst. „Gerade im Alter zwischen elf und 16 Jahren ist es wichtig, die Neugier der Mädchen zu nutzen, um sie für technische Möglichkeiten zu begeistern. Vielen Schülerinnen fehlt der frühe Kontakt zur Technik, dabei besteht oft Interesse. Auch wenn die Berufswahl hinterher eine andere sein sollte, ist die Schule ein Ort, um die Mädchen mit digitalen Angeboten in Kontakt zu bringen.“
Kristina möchte später nichts mit digitalen Medien machen, sondern Musik studieren. Bühnenerfahrung hat sie bereits am Staatstheater Kassel gesammelt. Freies Präsentieren macht ihr nichts aus. „Wenn man im Unterricht mal was Falsches sagt, kann man nur daraus lernen.“

Mehr Raum für Kreativität
Akyol ist froh über die Unterstützung, die sie durch das Kollegium erfährt: „Ein solches Projekt funktioniert nur, wenn alle die gleichen Ziele verfolgen“, sagt sie. Als Versuchsschule in Hessen will die OSW zukünftig noch einen Schritt weitergehen. Im Neubau, der bis 2025 entsteht, soll es einen Maker Space geben. Einen offenen Lernraum mit Werkzeugen, Technologien und Materialien. „Uns ist es wichtig, dass Lernen sichtbar wird und jede:r daran teilhaben kann“, sagt Dreher. „Auf diese Weise können wir möglichst vielen Lernenden, möglichst viele verschiedene digitale Angebote machen.“ Sich selbst einbringen, experimentieren, eigene Lehrinhalte beisteuern – davon werden zukünftig auch die Schülerinnen der OSW profitieren. Bis der Neubau eingeweiht ist, können die Mädchen im DigiLab weiter experimentieren.
Am Ende jeder Doppelstunde erforschen die Achtklässlerinnen via VR-Brille, was sie am PC bereits entwickelt haben. Kristina will vorher noch einen Schwarm Fische vor dem Hai flüchten lassen. Dazu muss sie jeden einzelnen Fisch programmieren, die Geschwindigkeit festlegen und den Weg zuweisen. Das klappt nicht auf Anhieb. „Nicht schlimm“, sagt Akyol. „Die Mädchen können zu Hause an ihrer Welt weiterarbeiten und ihr persönliches Projekt dann vorstellen, wenn sie es abgeschlossen haben.“

Text: Pamela Premm
Fotos: © DKJS /Anja Köhne
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