Berufsorientierung klischeefrei gestalten
Die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung und Wir stärken Mädchen sind Mitglied der Initiative Klischeefrei. Das bundesweite Bündnis fördert eine Berufswahl ohne Geschlechterklischees. Miguel Diaz, Leiter der Servicestelle der Initiative Klischeefrei, spricht im Interview unter anderem darüber, wie wichtig es ist, dass traditionelle Rollenbilder gar nicht erst entstehen. Außerdem gibt er Tipps für Pädagog:innen, die Berufsorientierung klischeefrei gestalten wollen.
Wir stärken Mädchen: Seit 2016 gibt es nun die „Initiative Klischeefrei“. Wie blicken Sie auf die Arbeit der letzten 5 Jahre zurück? Wie hat sich das Thema entwickelt?
Miguel Diaz: Die letzten 5 Jahre waren vor allem durch Aufbauarbeit geprägt. Aufbauarbeit bezogen auf unser Partnernetzwerk, aber auch auf unsere eigenen Angebote. Wir haben jetzt gut 380 Partnerorganisationen, darunter große Institutionen wie der ZDH (Zentralverband des Deutschen Handwerks) und der DIHK (Deutscher Industrie- und Handelskammertag), die Deutsche Telekom, das Beratungsunternehmen Accenture, das Robert-Koch-Institut, die RWTH Aachen, und sogar mit Mecklenburg-Vorpommern ein ganzes Bundesland. Aber auch kleine Kindertagesstätten, Schulen, Weiterbildungsinstitute und viele Handwerksbetriebe sind dabei. Unsere Partnerorganisationen sind bunt gemischt und kommen aus allen Bereichen von Gesellschaft, Wirtschaft, Bildung und Wissenschaft. Das freut uns und stimmt uns zuversichtlich für die Zukunft.
Infothek als zentraler Anlaufpunkt für Informationen rund um Berufswahl, Arbeitsmarkt und Klischees
Eine neue Initiative muss sich erst etablieren, und wir denken, dass uns das in den letzten fünf Jahren gut gelungen ist. Inhaltlich haben wir fundierte und praxisnahe Materialien für Fachkräfte entwickelt, die sehr gut nachgefragt werden. Das sind vor allem unsere Methodensets für Kita, Grundschule und Sekundarstufe I, aber auch Faktenblätter, Themendossiers oder ein Quiz für Jugendliche. Unsere Infothek enthält aktuell fast 500 Einträge und entwickelt sich zum zentralen Anlaufpunkt für alle, die Informationen rund um Berufswahl, Arbeitsmarkt und Klischees suchen.
Wir stärken Mädchen: Jugendliche werden in ihren Lebenswelten und in ihrer Berufsorientierung von Klischees und gesellschaftlichen Stereotypen über Geschlechter begleitet. Wenn wir den Blick auf Mädchen* richten: Wo sehen Sie besondere Herausforderungen, vor denen gerade Mädchen und junge Frauen in diesem Prozess stehen?
Miguel Diaz: Die neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge zeigen jedes Jahr aufs Neue: Die Berufswahl erfolgt noch stark entlang von Geschlechterklischees. Das bedeutet, dass Mädchen* sich eher auf Dienstleistungs-, Gesundheits- und Erziehungsberufe konzentrieren. In den schulischen Ausbildungen beträgt der Frauenanteil über 70 Prozent, bei der betrieblichen Ausbildung beträgt er aktuell hingegen nur 37%. Junge Männer orientieren sich in Richtung Technik, IT oder Handwerk – Berufe, mit häufig besserer Bezahlung und größeren Aufstiegschancen.
Frauen erzielen im Durchschnitt nur die Hälfte des von Männern erwirtschafteten Einkommens
An den Universitäten lässt sich bei der Fächerwahl von jungen Frauen und Männer das Gleiche beobachten. Zum geringeren Einkommen und den schlechteren Aufstiegschancen im sozialen und im Dienstleistungssektor kommt hinzu, dass sich durch die ungleiche Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit zwischen Frauen und Männern die finanzielle Schere noch weiter öffnet. Über den gesamten Lebensverlauf betrachtet, erzielen Frauen im Durchschnitt nur die Hälfte des von Männern erwirtschafteten Einkommens.
Wir stärken Mädchen: Was sind aus Ihrer Erfahrung die wichtigsten Ansatzpunkte, um diesen Herausforderungen zu begegnen?
Miguel Diaz: Am wichtigsten ist es, traditionelle Rollenbilder erst gar nicht entstehen zu lassen. Wir alle tappen allzu häufig in die Klischeefalle, meistens unbewusst, und reproduzieren Klischees. Deshalb setzen wir mit unseren Methodensets schon im Kindergarten auf die Sensibilisierung der pädagogischen Fachkräfte, um sie zu ermächtigen, klischeefrei mit Kindern umzugehen. In der Schule unterstützen wir mit unseren vielfältigen Materialien Lehrkräfte und andere pädagogische Fachkräfte darin, den zum Teil schon vorhandenen Bildern in den Köpfen der Kinder und Jugendlichen klischeefreie Bilder entgegenzusetzen. Wenn wir bis zum Moment der Berufswahlentscheidung warten, haben sich Rollenbilder oft schon sehr verfestigt, und es ist dann viel mühsamer, Mädchen z.B. für ein technisches Studium oder Jungen für Erziehung und Pflege zu begeistern.
»Eine klischeefreie Berufs- und Studienwahl erfordert ein Umdenken in weiten Teilen der Gesellschaft.«
Viele Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sind angesichts des Fachkräftemangels bereits sehr engagiert und tun viel, um das jeweils unterrepräsentierte Geschlecht für sich zu gewinnen. Auch Eltern wollen in der Regel ihre Kinder in ihren Stärken und Potentialen unterstützen. Kurz gesagt: Kinder und Jugendliche müssen darin gestärkt werden, ihre Stärken und Talente zu entdecken und zu nutzen und sie brauchen Vorbilder. Eine klischeefreie Berufs- und Studienwahl erfordert also ein Umdenken in weiten Teilen der Gesellschaft. Darauf wollen wir nicht zuletzt gemeinsam mit unseren Partnerorganisationen hinwirken.
Wir stärken Mädchen: Die Schule ist ein wichtiger Erfahrungsraum, in dem Berufsorientierung unterstützt und praktiziert wird. Was sind Ihre Tipps für Pädagog:innen, die Berufsorientierung klischeefrei gestalten wollen?
Miguel Diaz: Zunächst: Machen Sie sich eigene Klischees bewusst. Überprüfen Sie Ihre eigene Haltung und bilden Sie sich zu dem Thema weiter. Klischees abzubauen ist ein Prozess, der nicht von heute auf morgen abgeschlossen ist, sondern einen langen Atem braucht.
Gehen Sie stärkenorientiert auf Ihre Schülerinnen und Schüler zu – sie alle können versteckte Talente haben, von denen sie selbst noch nichts wissen. Unterstützen Sie ihre Schülerinnen und Schüler darin, diese frei von Klischees zu erkunden.
Nutzen Sie klischeefreie Materialien für Ihren Unterricht, die darauf verzichten, althergebrachte Geschlechterbilder zu reproduzieren, z.B. im Bildmaterial. Unsere Methodensets „Klischeefrei durch die Grundschule“ und „Klischeefrei macht Schule“ enthalten viele Anregungen und Unterrichtsmethoden, aber auch Hilfen zur Reflexion im Kollegium. Auch unsere beiden Klischeefrei-Quizze lassen sich wunderbar im Unterricht oder für Fortbildungen einsetzten.
Eltern als Berufe-Botschafter:innen nutzen
Nehmen Sie Angebote der Handwerks- und Industrie- und Handelskammern zur Berufsorientierung vor Ort an. Vielerorts gibt es Azubibotschafterinnen und -botschafter, darunter auch Mädchen in Berufen mit einem geringen Frauenanteil. Vielleicht haben Sie Kontakte zu Frauen in „Männerberufen“ und können sie für einen Unterrichtsbesuch gewinnen. Knüpfen Sie Kontakte, nutzen Sie auch die Eltern als Berufe-Botschafter.
Wir stärken Mädchen: Zum Schluss ein Blick in die Zukunft: Wo stehen wir in 5 Jahren? Was wünschen Sie sich für die Zukunft von Mädchen und jungen Frauen?
Miguel Diaz: Eine Welt ohne Geschlechterklischees wäre natürlich wünschenswert. In fünf Jahren wird sie aber wohl kaum Realität geworden sein. Wir wünschen uns deshalb engagierte Begleiterinnen und Begleiter für junge Frauen (und Männer), die das Denken der Kinder und Jugendlichen offenhalten und sie unabhängig von Klischees beim Erwachsenwerden begleiten. Wir wünschen uns weiterhin Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, die möglichst unvoreingenommen nach den besten Mitarbeitenden suchen, egal, welches Geschlecht sie haben. In so einer Welt finden junge Menschen die Berufe, die zu ihnen passen.